Bei der Kirche
1. Chor
Die heutige Stadtkirche ist eines der jüngsten Gebäude in der Biedenköpfer Oberstadt, zumindest so, wie sie heute dasteht. Vollendet wurde sie erst 1891, allerdings bezog sie ältere Gebäudeteile mit ein. So wurden die kleine Nothgotteskapelle an der Ecke Chor/Turm und wohl auch die Sakristei auf der gegenüberliegenden Seite des Chores beim Abriss der Vorgängerkirche aus dem 13. Jh. stehen gelassen, schon allein, um den mittelalterlichen Chor mit seinen Kreuzgratgewölben zu stützen, der ursprünglich auch wiederverwendet und in den Neubau einbezogen werden sollte. Der Chor allerdings stürzte ein und musste neu erbaut werden. Dabei geschah aber etwas, das Ende des 19. Jhs. völlig ungewöhnlich war: Man verwendete die alte nicht beschädigte Bauplastik wieder und fügte sie an den richtige Stellen wieder so ein, als ob sie noch immer in den gotischen Mauern säße.
Auf der äußeren Ostseite des Chores lohnt sich ein Blick nach oben. Hier wurden beim Neubau der Kirche zwei alte Wasserspeier wiederverwendet, ein Drache und ein Eber, die noch heute bei starkem Regen vorzüglich ihre Arbeit verrichten und in weitem Strahl das Regenwasser von den Fundamenten der Kirche weg spucken.
Heute betritt man außerhalb der Gottesdienstzeiten die Kirche in der Regel durch die Tür der Sakristei, über der die Jahreszahl der Weihe, 1891 eingemeißelt steht. Montags ist die Kirche geschlossen.
2. Die Nothgotteskapelle
An der Nothgotteskapelle, die noch original von 1415 erhalten ist, findet sich außen ein stark verwittertes Relief, das über einem knieenden Engel den hl. Apostel Petrus mit dem Schlüssel zeigt. Der Engel hält mit seinen Händen zwei Wappen in der Art eines Allianzwappens fest, also der Wappen von Eheleuten. Auf den Wappenschilden sitzen zwei sogenannte Stechhelme, die in deutlich zu erkennenden Spitzen vor der Nase des gedachten Trägers auslaufen, wodurch deutlich wird, dass sich die Helme ansehen. Dabei ist das linke Wappen sehr stark verwittert, aber die Helmzier ist noch identifizierbar und verrät das Wappen der Stifterfamilie, der Breidenbachs zu Breidenstein. Das Wappen der Ehefrau ist im Helm stark verwittert, auf dem Helm sind aber noch Flügel zu erkennen, die senkrecht nach oben weisen. Im Schild sind drei gleiche Buckel zu sehen, die in einer Linie liegen. Es wird im Allgemeinen mit dem Wappen der Herren von Erfurtshausen gleichgesetzt. Demnach sind es die Wappen der Eheleute Johann von Breidenbach und der Bene von Erfurtshausen, die um 1410 in Urkunden auftauchen. Die Nothgotteskapelle wurde der Überlieferung nach von Johann von Breidenbach als Sühne für einen Mord gestiftet. Auch in der Kapelle findet sich in einem Schlussstein der Schild derer von Breidenbach, auf dem anderen Schlussstein der dazu gehörige Helm.
3. Die Taufsteine
Vor dem Pfarrhaus steht der älteste Taufstein Biedenkopfs, ein wunderbarer Monolith, der durch seinen Stil nachweist, dass Biedenkopf im frühen Mittelalter kirchlich vom Rheinland aus erschlossen wurde, nicht von Fulda. Die eigentliche „Wanne“ mit ihren Bögen ist erhalten, es fehlen heute der Sockel und die sechs kleinen Säulen, auf denen der Stein ursprünglich ruhte. Selbst das Gestein stammt nicht aus der hiesigen Gegend, sondern der Stein ist als Ganzes ein Import aus dem Rheinland.
Wer als Gegenstück einen Taufstein sehen möchte, der stilistisch die kirchliche Prägung aus Fulda verrät, der wird in der Marienkirche in Marburg fündig. Die kirchliche Grenze zwischen Rhein und Fulda verlief also im frühen Mittelalter quer durch den heutigen Landkreis Marburg-Biedenkopf.
In der Stadtkirche Biedenkopf steht der nachfolgende Taufstein, der noch heute verwendet wird. Er stammt ursprünglich aus der Hospitalkirche
4. Das Kruzifix
Im Chor der Kirche selbst befindet sich ein großes Kruzifix, also ein Kreuz mit dem angenagelten Körper Christi, von 1625 oder 26. Eigentlich gehört es zum Inventar des Schlossmuseums, wie ein Bild des Gründers des Museum vor genau diesem Kreuz beweist, es befindet sich als Leihgabe des Landkreises in der Kirche.
5. Die Grabplatte von Hiltwin Budicker
An den Wänden des Chores und an der Wand zwischen Schiff und Chor befinden sich heute mehrere Epitaphe, also Grabplatten von Personen, die im Boden der Kirche beigesetzt wurden. In der ursprünglichen mittelalterlichen Kirche, die 1889 abgerissen wurde, lagen sie als Abdeckung der Gräber auf dem Boden, wie die Abnutzungsspuren beweisen. Beim Neubau bis 1891 wurden sie an die Wände verbracht. Die prachtvollste ist die zwischen Schiff und Chor und erinnert an einen der letzten katholischen Geistlichen, Hiltwin Budicker (Böttcher), der in der alten Stadtkirche vor der Reformation tätig war. Deshalb zeigt das prachtvolle in Sandstein eingelegte Messingrelief ihn im Messornat des katholischen Ritus. Gestaltet ist das Epitaph wie der Bucheinband eines Evangeliars mit den Symbolen für die Evangelisten in den Ecken, der Engel für Matthäus, der Löwe für Markus, der Stier für Lukas und der Adler für Johannes. Zu seinen Füßen ist das Wappen seiner Familie zu sehen. Als Todesdatum nennt die Grabplatte den 24. Februar 1520.
6. Das Epitaph für Gerlach Walther
Dasselbe Wappen ziert das kleine Bronzeepitaph für seinen Verwandten Gerlach Walther, der der erste evangelische Pfarrer in Biedenkopf war. Walther war Geistlicher ab 1526, muss also bis zur Einführung der Reformation in Hessen noch als katholischer Priester Dienst getan haben. Später heiratete er und hatte, wie das Epitaph beweist, viele Kinder, die alle auf dem Epitaph dargestellt sind. Hiltwin Budicker war Gerlach Walthers Onkel. Walther starb am 17. Dezember 1578. Seine Gedächtnistafel wurde von seinem Sohn Theophilus gestiftet. Interessant sind bei der Darstellung der Frauen die Trauermäntel auf den Köpfen, ein Kleidungsstück, das sich in den Trachten des Hinterlandes bis ins 20. Jahrhundert halten konnte.
7. Die Grabplatten von Mutter und Tochter Ziesler
Nun folgen zwei Grabplatten, die eine gemeinsame Geschichte verbindet. Die kleinere zeigt die, wie damals üblich, am ganzen Körper gewickelte Maria Hedwig Ziesler. Sie war die Tochter des Schultheiß Johannes Ziesler und wohnte mit ihren Eltern im Schenkbarschen Haus, der Kirche gegenüber. Maria starb nach 26 Tagen am 26. November 1650, wie ihr Grabstein erzählt. Den Tod ihres jüngsten Kindes konnte die Mutter, Anna Katharina Ziesler, nicht verwinden. Sie starb kein Jahr nach ihrer Tochter am 20. Oktober 1651 im Alter von 40 Jahren an gebrochenem Herzen und Schwermut, wie in ihrer heute noch erhaltenen Leichenpredigt erwähnt wird. Die Grabplatten stehen noch heute direkt nebeneinander.
8. Die Kragsteinfiguren und der Schlussstein im Chor
Im Chor haben noch andere überraschende Teile der alten Kirche überlebt, die beim Neubau 1891 wieder verwendet wurden. Richtet man den Blick nach oben, so entdeckt man die vier steinernen hockenden Figuren, auf denen die Grate des Gewölbes ruhen. Es sind so genannte Kragsteine oder Konsolsteine, die in der Mauer sitzen und eigentlich nur die statische Funktion haben, den Druck der Gewölberippen auf die Wand überzuleiten. Solche Kragsteine wurden schon seit der Antike gerne verziert, in diesem Fall als menschliche Figuren. Von Ihnen ist nur eine zu identifizieren: Als zweiter von links mit der Laute sitzt da möglicherweise König David. Rechts neben ihm sitzt ein reicher Mann mit einem Chaperon auf dem Kopf, einer Kopfbedeckung des 15. Jahrhunderts, vielleicht einer der reichen Tuchhändler Biedenkopfs. Die übrigen Figuren sind nicht nur unidentifizierbar, sondern beide sehr merkwürdig. Der ganz links hat das Gewand hochgeschlagen, wie wenn er auf der Toilette wäre, der ganz rechts sitzt auf einem anderen Kopf. Die Bedeutung dieser Figuren ist heute verloren.
Der Schlussstein des Gewölbes direkt über dem Altar stammt ebenfalls aus der gotischen Vorgängerkirche und zeigt den Schutzpatron des Hauptaltars, den Evangelist Johannes, dem der Adler die Worte seines Evangeliums eingibt. Wenn es das Licht erlaubt, sieht man am dem Kirchenschiff zugewandten Rand des Schlusssteines wieder das Wappen der Herren von Breidenbach zu Breidenstein.
Verlässt man die Kirche wieder durch die Sakristei, entdeckt man unter dem Gratende in der Wandmitte einen weiteren Konsolstein in Form eines Königskopfes und in der linken Ecke eine Konsole mit Akanthusblättern. Auch deren Bedeutung ist heute unbekannt.
Den Weg zurück zum Marktplatz finden Sie über den Nonnenberg.